Aufbruch von Zollstock nach Israel… und trotzdem in der Melanchthonkirche! Wie kann das gehen?

Julia Nitzan Beer im Interview mit unserer Presbyterin Ulli Pickert.
Das Interview haben beide am Telefon und per SMS geführt.
Fotos der Bildergalerie und Videos: Julia Nitzan Beer

Hallo Julia: Ich finde es total super, dass Achim Wenzel den Kontakt zwischen uns hergestellt hat, der dich quasi seit dem Sandkasten kennt. Es freut mich sehr, dass du einverstanden bist, uns deine spannende Geschichte zu erzählen. Am besten legen wir damit los, dass du dich als Zollstockerin vorstellst. Ein paar alte Fotos hast Du uns auch geschickt, vielleicht erkennt dich jemand darauf wieder.

Hallo Ulli: Ja es freut mich auch total! Ich finde euer neues Format für das Magazin großartig. Es freut mich sehr, dass ich mich als „ehemalige“ Zollstockerin vorstellen darf und dass ihr an meinem Leben in Israel interessiert seid. Bevor ich anfange, muss ich sagen, dass ich Zollstock sehr vermisse! Ich bin in Zollstock groß geworden…

… all meine Kindheitserinnerungen liegen dort. Mit meinen Eltern habe ich erst in der Ferdinand-Schmitz-Straße gewohnt, danach in der Willigisstraße und wieder etwas später auf dem Zollstocksweg. Wir sind quasi immer ein paar Meter weiter im Zollstock-Karree umgezogen. Seit meiner Kindergartenzeit hat mich die Gemeinde der Melanchthonkirche geprägt. Zur Grundschule bin ich in die Bernkasteler Straße gegangen und damit regelmäßig zu Schul- und Kindergottesdiensten auch in die Melanchthonkirche gekommen.

  • Julia vorn rechts im Korb - Aufführung der "Vogelhochzeit" der Melanchthon-Kita

Schon damals hat Achim alle akustisch mit der Gitarre bereichert :).  Meine ganze Familie lebt in Zollstock, alle nur ein paar Meter voneinander entfernt. Ich liebe das Viertel und die Leute. Es ist einfach eine so familiäre Stimmung vor Ort, die es aus meiner Sicht sonst nirgendwo gibt.
Später dann folgte die Konfirmationszeit. Während meiner Berufszeit als Gesundheits- und Krankenpflegerin habe ich dann auch einige Zeit in Sülz gelebt. Als ich mein Studium an der TH Köln begonnen habe, bin ich dann wieder nach Zollstock gezogen, in dieselbe Straße, in der ich bereits mit meinen Eltern gewohnt hatte. Zollstock mit seinen vielen Parks, den Kaffees, der Höninger Weg… Jeder kennt jeden, und wenn man noch nie miteinander gesprochen hat, kennt man sich vom Sehen trotzdem.

Ulli: Jetzt wissen wir etwas über deine Kölner Zeit. Und wie hat es dich dann nach Israel verschlagen? Was hast du dort gemacht?

Julia: Ja, das ist natürlich ein weiter Sprung von Zollstock nach Israel :). Wie hat es mich hier her verschlagen? Anfänglich durch ein Auslandsemester innerhalb meines Studiums. Das Auslandssemester war Pflichtprogramm in meinem Studium, und noch zu Zeiten als Gesundheits- und Krankenpflegerin war ich längere Zeit in Indien für ein Ehrenamt und habe dabei erstaunlich viele Israelis kennen gelernt. Das schien das Top-Reiseziel der Israelischen Bevölkerung zu sein, daher war mir die Kultur nicht ganz fremd. Somit entschied ich mich, meinen ersten Eindruck mit meinem Auslandssemester noch zu vertiefen, und belegte ein Semester an der Universität in Jerusalem.

Israel ist eine tolle Mischung aus Orient und Westen. Man kann sich in diesem Multi-Kulti-Hotspot recht gut einleben und es gefiel mir so gut, dass ich dann gleich für ein weiteres Semester geblieben bin. Im zweiten Semester habe ich dann meinen Mann kennen gelernt. Den Rest kann man sich jetzt schon denken (lach). Warum bin ich in Israel geblieben oder wieder dahin zurückgekehrt? – Der Liebe wegen! Es gibt, glaube ich, keinen schöneren Grund, auch wenn die Entscheidung ganz sicher nicht leicht war.

Nach meiner Studienzeit in Israel habe ich zunächst mein Studium in Köln beendet und den Familienrat einbezogen. Als meine Familie mir dann die Absolution erteilt hat, konnte ich mit gutem Gewissen packen.
Und dann ging alles eigentlich ganz schnell. Ich habe alles, was ich besaß, verkauft und verschenkt bis auf das Nötigste. Zwei Kartons wurden nach Israel geschickt, und mit drei Koffern im Flieger bin ich dann auf ins weitere Abenteuer nach Israel. An dieser Stelle muss ich auch mal die Gelegenheit nutzen und meiner Familie danken. Wie groß vor allem elterliche Liebe sein kann, ist einfach unglaublich.

Ulli: Wie sah dein Leben in Israel bzw. in Jerusalem aus? Ich stelle es mir sehr spannend vor, in der Wiege unserer Religion zu leben und zu arbeiten.

Julia: Während meiner Studienzeit in Israel habe ich mit zwei Israelinnen im Zentrum Jerusalems in ‚Nachlaot‘ gelebt. Das ist 20 Gehminuten von Jerusalems Altstadt entfernt. Eine meiner Mitbewohnerinnen ist religiös, somit mussten auch ich und unsere anderen israelischen Mitbewohnerinnen die jüdisch-religiöse Haushaltsführung einhalten. Koscher kochen, Shabat einhalten, die jüdischen Feste feiern. Für mich als Christin war das alles sehr interessant. Schließlich ist das Judentum die Kultur, in die Jesus Christus geboren wurde und in der er aufgewachsen ist.

Grundsätzlich ist man vor allem in Jerusalem immer von Religion umgeben. Egal ob jüdisch, christlich oder islamisch. Bei der Arbeit, im Studium, in der Freizeit oder beim Feierabend-Programm mit Freunden. Religion ist allgegenwärtig. Auch das ist schön und intensiv zugleich. Trotz des Konfliktpotenzials ist es definitiv sehr gemeinschaftlich. Insgesamt empfinde ich, dass das menschliche Miteinander erprobt ist im gegenseitigen Aushalten. Denn Toleranz und Rücksichtnahme wird hier tagtäglich neu ausgelotet. Das ist zum Teil recht gefühlsintensiv, vor allem für pragmatisch veranlagte Deutsche, aber es ist so menschlich!

Jerusalem ist auch in Israel nicht irgendeine Stadt. Es ist ein besonderer Ort. Die Stadt lässt sich in Worten kaum beschreiben. Jerusalem kann bei all dem Charme, den es mit sich bringt, auch anstrengend sein. Die vielen verschiedenen Kulturen und Religionen machen Jerusalem zu einem spannungsintensiven Ort. Gleichzeitig strahlt Jerusalem aber auch Frieden aus. Es ist schwer zu beschreiben, man muss es echt erleben. Es ist durch und wegen der kulturellen und religiösen Unterschiede gespannt und friedlich zugleich. Ich finde, Jerusalem packt einen, öffnet Geist und Herz. Man wird nicht zur Reflexion eingeladen, nein, man bekommt es vor die Füße geknallt. Es ist liberal und tief religiös. Streng und dann machen doch alle, was sie wollen. Man kann den Eindruck haben, es sei der lauteste Ort überhaupt und an Samstagen, dem jüdischen Shabat, ist es die leiseste Stadt der Welt. Im ersten Moment kann man schockiert sein, und dann vermittelt Jerusalem einem trotz allem dieses Heimatgefühl. Vielleicht gerade, weil es die Wiege unserer Religion ist. Ich fühle in Jerusalem immer diese nicht in Worte zu fassende Verbundenheit mit allem. Trotz der vielen Wiedersprüche, denen man hier begegnet. Ich habe das an noch keinem anderen Ort so empfunden.

Fährt man dann nach Tel Aviv, hat man direkt das Gefühl, man sei in einem anderen Land. Die Städte liegen nur eine Stunde voneinander entfernt und trotzdem liegen Welten dazwischen. Tel Aviv kleidet sich im mediterranen, modernen Großstadtflair und ist bekannt für Party und Nightlife. Auch hier mischen sich natürlich die Kulturen. Das bleibt in Israel nicht aus. Egal wo man hin fährt, überall begegnet man Menschen unterschiedlichster Kultur und Religion. Das macht es so interessant hier.

Und dann kann man zusätzlich nahezu jeden Ort bereisen, der in der Bibel beschrieben ist. Das, so finde ich, gibt noch einmal eine ganz andere Nähe zur eigenen Religion. Wir alle kennen aus den biblischen Erzählungen diese Orte: den See von Galiläa, den Fluss Jordan oder den Berg Morija. Ja, und dann steht man plötzlich genau an den Stellen, die in der Bibel beschrieben sind. Daher ist es einem nicht fremd, auch wenn man zum ersten Mal da ist. Die Menschen unserer Religion hören von diesen Orten bereits seit mehr als zweitausend Jahren. Und dann steht man davor und jedesmal kommen dann tausend Fragen in mir hoch. Habe ich mir das so vorgestellt? Sah es damals auch so aus wie jetzt? Wie hat sich das hier genau abgespielt? Es ist aufregend!

Dann gibt es natürlich auch sehr viele Kirchen in Israel und vor allem in Jerusalem. Auch das ist ausgesprochen interessant, weil ich dadurch zum ersten Mal Zugang zu verschiedenen Gruppen unserer christlichen Religion erhalten habe. Seit meiner Zeit in der Hebräisch-Sprachschule kenne ich Abuna, Dariush und Baruch. Abuna ist Mönch der Koptisch-Orthodoxen Kirche und lebt mit seinen Glaubensbrüdern in der Grabeskirche Jesu Christi. Dariush ist Mönch der Franziskaner und lebt in einem Orden in Betlehem. Baruch ist jüdischer Kantor in einer Gemeinde in Osnabrück. Gemeinsam mit weiteren Juden und Christen aus aller Welt und unseren beheimateten arabischen Mitschülern aus Ostjerusalem haben wir die Schulbank gedrückt. Es war großartig und sehr gemeinschaftlich. Wenn ich heute an der Grabeskirche vorbei komme, gehe ich Abuna besuchen. Direkt nebenan liegt meine Lieblingskirche, die evangelische Erlöserkirche. Man kann den Turm besteigen und hat einen tollen Ausblick über die ganze Altstadt. In dem wunderschönen Kreuzgang der Kirche gibt es ein Nachmittagscafé, geführt von deutschen Ehrenamtlichen. Immer wenn ich Sehnsucht nach unserer Melanchthonkirche habe, ist das der place to be!

Ulli: Du hast mir erzählt, dass du deinen Mann in Jerusalem kennen gelernt hast und wie schwierig in Israel eine Ehe verschiedener Religionen ist. Erzähl doch mal davon.

Julia: Wir haben uns auf einem Rock-Konzert in Jerusalem kennen gelernt. Wir fanden uns auf den ersten Blick toll (lach). Für uns war es nie ein Problem, dass wir unterschiedlichen Religionen angehören. Im Gegenteil. Tomer, so heißt mein Mann, ist Tour-Guide und hat „Israel-Studies“, also die Entwicklung Israels von den Anfängen bis heute studiert. Er kann einem alles zur Landeskunde erzählen. Ich sitze quasi an der Quelle. Das Christentum ist einer seiner liebsten Themen, in denen er extra immer wieder Seminare belegt. Damit führt er auch viele christliche Pilgergruppen aus aller Welt durch das Land. Er weiß viel mehr über das Christentum als ich. Er selbst ist jüdisch, so wie seine ganze Familie.

Tatsächlich ist es in Israel so, dass Ehen nur von religiösen Amtsinhabern geschlossen werden können. Es gibt hier kein Standesamt und Ehen werden nicht vom Staat geschlossen. Außerdem wird die Ehe von Rabbinern nicht zwischen verschiedenen Konfessionen geschlossen. Das heißt, hier in Israel kann die Ehe von einem Rabbi zwischen einem jüdischen Paar geschlossen werden, ein Imam schließt sie zwischen einem muslimischen Paar und ein Pfarrer oder Priester zwischen einem christlichen Paar.

Viele Menschen der jüdischen Bevölkerung sind dagegen, weil es nicht mehr als zeitgemäß empfunden wird und es natürlich auch viele Menschen in der jüdischen Bevölkerung gibt, die selbst gar nicht oder nur kaum religiös leben. So wie mein Mann. Gleichzeitig gibt es aber auch einen großen Anteil der Bevölkerung, der diese Entscheidung begrüßt, vor allem – aber nicht ausschließlich – der Anteil der religiösen Bevölkerung. Warum das so ist, hat verschiedene Gründe. Einer davon ist mit Sicherheit die Vielzahl an Traumata der jüdisch-kulturellen Geschichte. Das ist aber nicht der einzige Grund. Weitere zu erklären würde jetzt, glaube ich, den Rahmen sprengen und ich halte meine Kenntnisse an dieser Stelle auch nicht für adäquat genug, das richtig zu erklären. An dieser Stelle müssten wir einen Rabbi fragen :).

Fakt ist, jüdisch ist jeder, der eine jüdische Mutter hat. Die Religion ist also ein Geburtsrecht. Man kann zum Judentum konvertieren, jedoch ist der Prozess langwierig und erfordert für die offizielle Anerkennung eine Umstellung zum jüdisch-orthodoxen Lebensstil. Die damit verbundenen Veränderungen des eigenen gewohnten Lebensstils können als einschneidend empfunden werden. Vor allem, wenn man aus einer Kultur oder Religion kommt, in der in den letzten einhundert Jahren kein orthodoxer Lebensstil mehr vorgelebt wurde. Ich will damit nicht sagen, dass es unmöglich ist oder nicht gewollt. Es erfordert einfach extreme Anpassung und Ambition und steht zum Teil nicht im Einklang mit dem Lebensstil der nicht religiösen jüdischen Bevölkerung. Das macht es etwas kompliziert.

Dennoch haben wir aus unserem direkten Umfeld bezüglich unserer gemischt-religiösen Ehe nie Ablehnung erfahren. Im Gegenteil. Der Schritt wird eher begrüßt. Wir kennen aber auch Leute, die sich ganz klar dagegen aussprechen und es wünschenswert fänden, wenn ich konvertieren würde. Auch wenn ich dem bis auf weiteres nicht nachkomme, werde ich dennoch als Person geachtet und wertgeschätzt. Es schließt mich unter Umständen einfach nur von gewissen zeremoniellen Dingen aus.

Geheiratet haben wir in Zypern nach britischem Recht, das wiederum auch in Israel anerkannt ist. Man muss das nicht verstehen. Die Tatsache, dass wir nicht in Israel heiraten konnten, entwickelte sich zum Vorteil für uns, da wir so eine total super Strand-Hochzeit auf die Beine stellen konnten.

Unsere angereisten Gäste kamen gleichzeitig für einen Urlaub. Wir hätten auch in Deutschland heiraten können. Allerdings wäre der Akt noch etwas bürokratischer gewesen und in Zypern war das Wetter einfach besser. Trotzdem habe ich auch immer noch den Wunsch, einmal kirchlich getraut zu werden. Tomer ist offen dafür… Ich glaube, ich muss mal mit dem Achim sprechen ;).

Unabhängig von dem religiösen Unterschied ist es außerdem recht spannend, wie man als Deutsche in Israel aufgenommen wird. Tomers 93-jährige Oma, die, wie ihr Mann, in der Kindheit auf einem Schiff ohne Familie aus Nazi-Deutschland nach Israel fliehen musste, war anfänglich etwas skeptisch, als sie hörte, dass ihr Enkel eine deutsche Freundin hat. Als wir uns dann kennenlernten, hat sich das aber sofort geändert. Sie verwöhnt mich wie ihre eigenen Enkel und begrüßt jede Situation, in der sie mit mir Deutsch sprechen kann. Deutsch hat sie zuletzt nur mit ihrem Mann gesprochen, der leider schon vor 30 Jahren gestorben ist. Unsere gemeinsame Sprache gibt uns eine besondere Verbundenheit. Alles, was die anderen Familien-Ohren nicht hören sollen, wird mir auf Deutsch erzählt. Und sie ist ein großer Fan von Angela Merkel (lach).

Zu meiner großen Überraschung gibt es aber recht viele Deutsche in Israel. Auch innerhalb des Studiums war der Anteil der Deutschen und Israelis, die gegenseitig für ein Auslandssemester in das jeweils andere Land gehen, am größten. In Berlin gibt es mittlerweile eine große israelische Community und unter Israelis meiner Generation ist Berlin total angesagt. Frage ich meine Freunde und Bekannten nach den Hintergründen und Erlebnissen ihrer Vorfahren, gibt es kaum jemanden, der nicht Verwandtschaft hat oder hatte, die nicht fliehen musste oder im Holocaust umgekommen ist. Ich bin sehr glücklich darüber, dass die Deutsch-Israelischen Beziehungen mittlerweile wieder so gut sind mit gemeinsamen vertrauensvollen Gemeinschaften ohne Vorurteilen. Für mich wirken vor allem die jungen Israelis sehr interessiert an Deutschland und Europa. Vielleicht ist es für den ein oder anderen ja auch eine ganz persönliche Suche nach der Verbindung zu Leben und Kultur der eigenen Vorfahren. Wie auch immer, ich halte das auf jeden Fall für sehr heilsam.

Ulli: Auf Instagram gibt es ein Foto von dir und deinem Mann in der Wüste. Was hat es damit auf sich?

Julia: Ja, das waren unsere Flitterwochen. Wir sind 500 km von Jerusalem bis runter nach Eilat zum Roten Meer durch die Wüste gewandert. Das waren aufregende eineinhalb Monate. Nachdem wir nach unserer Hochzeit aus Zypern wieder nach Israel eingereist sind, durfte ich innerhalb der Zeit unserer Ehe-Anerkennung seitens des israelischen Staates erst einmal nicht ausreisen. Deswegen hatten wir keine Option für unsere Flitterwochen, Urlaub in einem anderen Land zu machen. Mein Mann hatte seit Jahren den Wunsch, einmal den „Schwil Israel“ – den National Trail Israels – zu wandern. Das ist ein eintausend Kilometer langer Wanderweg vom Norden bis runter in den Süden Israels. Es war das körperlich Anstrengendste, was ich bis dahin gemacht habe. Mit 20 Kilo Gepäck jeden Tag 15 bis 30 Kilometer durch die Wüste. Es hat mich anfänglich viele Blasen gekostet (lach), aber es war unglaublich schön. Vor Sonnenaufgang aufzubrechen und fern ab der Zivilisation zu zweit durch die Wildnis am Toten Meer vorbei. Es gab jeden Tag ein neues Abenteuer. Wir haben viele Wüstentiere getroffen, Beduinen kennen gelernt, und ich musste meine Höhenangst überwinden, weil die Wüste hier nicht flach ist, sondern man eigentlich Tag für Tag Berge rauf und runter marschiert. Auch logistisch war es eine absolute Herausforderung, weil wir teilweise acht Tage am Stück kein fließendes Wasser hatten. Seitdem weiß ich, wahre Liebe zeigt sich, wenn man acht Tage nicht duschen kann und man trotzdem immer noch gewillt ist, in einem kleinen Zelt miteinander einzuschlafen =).

Zu meinem Erstaunen haben wir wahnsinnig viele Menschen aus aller Welt angetroffen. Die Israelis behandeln die „Schwilisten“ (so werden die Wanderer dieses Trails genannt) wie Nationalhelden. Die Leute, die mit dem Auto durch die Wüste fahren, halten an und fragen, ob man genug Wasser hat. Kommt man in ein Dorf, stürmt der Bäcker aus seinem Laden und lädt zu kostenlosen Teilchen ein. Trifft man auf Camper, wird man direkt zum gemeinsamen Picknick eingeladen und die Kompanie-Soldaten, die in der Wüste für Feldübungen unterwegs sind, teilen auch gerne mit einem ihre Butterbrote. Das zeichnet die Gastfreundschaft der Israelis aus, und überhaupt sind die Leute alle sehr neugierig und offenherzig. Unsere Wanderung war definitiv kein einmaliges Erlebnis. Seitdem verbringen wir regelmäßig Wochenenden in der Wüste. Ist ja direkt um die Ecke =). Und Tomer bietet Wüstenwanderungen auch für Gruppen an. Es ist seine absolute Leidenschaft. Im darauffolgenden Frühjahr ist er für sich selbst auch noch die restlichen 500 Kilometer durch den Norden gewandert. Für mich stand zu dem Zeitpunkt ein weiteres Semester Hebräisch-Studium an. Auch der Norden Israels hat viel zu bieten. Im Winter kann man ganz hoch im Norden sogar Ski fahren. Dieses Land ist ja nur so groß wie Hessen, aber bietet landschaftlich so viel. Die Wüste ist das absolute Highlight.

Ulli: Als Kirchengemeinde interessiert uns und unseren Leser:innen sicherlich auch, wie du deinen protestantischen Glauben in Israel leben kannst. Und wie kommst du mit der Sprache klar?

Julia: Israel ist ja ein jüdischer Staat, aber trotzdem multi-religiös. Man findet in nahezu jedem Ort jede der drei monotheistischen Religionen. In Jerusalem war meine Anlaufstelle die Erlöserkirche. Gerade sind wir umgezogen, und derzeit bin ich noch auf der Suche nach einer neuen protestantischen Gemeinde. Weit bin ich aber noch nicht gekommen, weil wir, bedingt durch die Pandemie, auch schon seit Monaten immer wieder im Lock-Down sitzen und alles zu hat. Ich bin optimistisch, dass ich Anschluss finde, sobald bessere Zeiten kommen. Gemeinden sind auf jeden Fall da. Gerade habe ich die Info erhalten, dass es sogar protestantische Gemeinden gibt, die sich noch auf die Zeit der Tempelritter beziehen. Ich muss das mal genauer recherchieren. Mit meinem Glauben gehe ich ganz offen um. Seitdem ich in einer Kultur lebe, die in erster Linie nicht christlich ist, weiß ich für mich selbst, dass der eigene Glaube nicht einfach so abgelegt werden kann. Er ist ein Teil von mir. Er ist meine Kultur. Ich bin mit meinem Glauben groß geworden. Er stärkt mich und gibt mir Halt. Mein Glaube verbindet mich natürlich auch mit Christen und Protestanten weltweit. Das spüre ich vor allem sehr, seitdem ich in einer anderen Kultur, umgeben von anderen Religionen lebe. Auch in Deutschland lebt man, Gott sei Dank, multi-religiös, dennoch ist der Großteil christlich. Unsere Kultur orientiert sich am christlichen Glauben. Daher war meine Religion eher etwas Selbstverständliches und nie wirklich ein Thema. Das ist mir erst richtig klar geworden, als ich dann ganz nach Israel gegangen bin.

Zu meiner großen Freude wird meine Religion und Kultur unter unseren jüdischen Freunden als Bereicherung empfunden. Im Dezember zünden wir den Adventskranz und den Chanukkaleuchter an. Wir feiern das jüdische Lichterfest und die Adventszeit zusammen. Tomer bringt mir die jüdischen Gesänge bei und er schmückt mit mir den Kranz. Jeder hier möchte wissen, was denn ein Adventskranz ist. Dieses Jahr Weihnachten haben sich unsere Gäste so richtig ins Zeug gelegt. Wir haben schon zweimal hier Weihnachten gefeiert, und die Hütte war voll! Unsere Freunde lieben es. Dieses Jahr hat sogar jemand einen Baum besorgt.

Zusammen mit Freunden basteln wir Weihnachtsdeko, und mit den Wichtelgeschenken haben sie sich dieses Jahr alle selbst übertroffen. An Heiligabend haben wir alle eingeladen und gemeinsam die Weihnachtsgeschichte nachgespielt. Die Rollen wurden per Los verteilt. Das absolute Highlight des Abends war das gemeinsame „Oh Tannenbaum“-Singen auf Deutsch. Und weil es etwas lauter war, meldeten sich die Nachbarn, die auch noch gerne vorbeikommen wollten und neugierig waren, was bei uns denn so abgeht. Das mussten wir aber leider bedingt durch Corona einschränken.

Es wurden schon Wünsche bezüglich eines Osterfestes geäußert. Natürlich feiern wir hier auch alle jüdischen Feste wie Pessach, Sukkot, Jom Kippur und die weiteren. Meine muslimischen Freunde, die ich aus dem Hebräisch-Unterricht kenne, laden uns auch zu ihren Festen ein. Das ist auch sehr besonders. Vor allem das Ramadan-Fest finde ich toll, wenn sich die zahlreichen Familien und Nachbarn an meterlangen Tischen versammeln und man liebevoll mit den besten hausgemachten arabischen Köstlichkeiten vollgestopft wird.

Wie komme ich mit der Sprache klar? Zu Beginn, innerhalb meines Studiums, habe ich nicht wirklich Hebräisch gelernt. Die wichtigsten Wörter und Sätze vielleicht, aber es war zu dem Zeitpunkt nicht nötig, mehr zu können, da das Studium auf Englisch war und ich meine Rolle damals eher als Gast betrachtete.

Das hat sich natürlich geändert, seit ich nach Israel zurück gekehrt bin. Die Sprache lernen halte ich für unumgänglich, auch wenn hier fast jeder englisch spricht, was praktisch, aber nicht hilfreich ist, wenn man sich eigentlich auf Hebräisch konzentrieren will.

Hebräisch habe ich drei Semester in einer „Ulpanim“, so heißen die hebräischen Sprachschulen, gelernt. Ich konnte die Zeit gut dafür nutzen, da ich zu dem Zeitpunkt noch auf meine offizielle Arbeitserlaubnis warten musste und das Amt sich Zeit ließ. Mein Sprachniveau kann man mit B1 vergleichen, was viel ist nach nur drei Semestern. Aber das Programm war auch in Vollzeit und vergleichbar mit einem „boot-camp“, dass einen für die Olympiade vorbereiten soll. Im Alltag, beim Einkaufen, beim Arzt usw. kann ich mich auf Hebräisch verständigen. Mit Tomers Familie spreche hebräisch und wir beide versuchen das auch immer wieder einzubauen, aber leider sprechen wir miteinander einfach viel zu viel Englisch. Tiefgreifende Gespräche sind immer noch schwer für mich. Wenn ich den anderen zuhöre, verstehe ich stetig mehr. Nur wenn alle durcheinander reden, und das passiert hier oft, dann verliere ich schnell den Faden.

Das Schriftbild ist natürlich auch ganz anders und man schreibt und liest von rechts nach links. Ich finde, die Sprache ist sehr logisch und mathematisch aufgebaut. Ganz anders als Deutsch. Wenn man einmal drin ist, geht es eigentlich. Man muss sich nur einmal daran gewöhnen, dass alles ganz anders ist und dann am Ball bleiben. Ich glaube, Deutsch lernen ist der größere „Krampf“. Tomer versucht das gerade, und daran sehe ich, wie schwer die deutsche Sprache ist. Regelmäßig steht er vor mir und fragt mich, warum wir etwas so oder so sagen, und oft verstehe ich es selbst nicht.

Ulli: Das Leben vor und in Corona-Zeiten, das betrifft uns alle. Wie hat es sich für dich und deinen Mann verändert? Wie hältst du Kontakt zu deiner Familie in Köln?

Julia: Es hat sich alles verändert. Die Veränderungen wären sicher auch so eingetroffen, aber es hat alles definitiv beschleunigt. Zu aller erst betraf es Tomers Arbeit, da sofort die Pilgergruppen und die jüdischen Sommercamps aus Amerika ausfielen. Gleichzeitig wartete ich immer noch auf meine Arbeitserlaubnis. Das Amt, das diese ausstellen sollte, machte bedingt durch Corona erst einmal zu. Wir standen also beide ohne Einkommen da und wussten erst mal nicht mehr, wie wir auf Dauer die exorbitante Miete in Jerusalem bezahlen sollten. Völlig unabsehbar war auch, wann von uns wieder jemand arbeiten kann.

Da ich immer noch in guter Hoffnung war, dass die Arbeitserlaubnis bald kommt, sah ich meine Chancen, einen guten Job im High-Tech-Bereich zu finden, eher in der Küstenregion Israels als in Jerusalem. Wir wären ohne Corona vielleicht erst einmal in Jerusalem geblieben. Wir mochten es dort, und vor allem meine Freunde aus dem Studium und der WG leben dort. Aber ohne Touristen sind die Arbeitsbedingungen in Jerusalem für uns eingeschränkt, so wie für viele dort. Die ganzen Reiseagenturen mussten schließen. Die komplette Altstadt mit all den tollen familiengeführten Geschäften und Restaurants, die es zum Teil schon seit hunderten von Jahren gibt, ist zu. Wie viele Menschen kennen wir, die gerade keine Arbeit haben… Aber so ist es ja gerade fast überall auf der Welt.

Daher entschieden wir uns, nach Haifa zu ziehen, in die Hafenstadt Israels zwei Stunden entfernt von Jerusalem. Mir war wichtig, dass Tomer und ich in der Zeit dieses Corona-bedingten Stillstands aktiv werden. Wir suchten also nach einer Alternative zum Leben und entschieden uns für Haifa, weil es hier zum einen viele High-Tech-Firmen gibt, die Mieten im Verhältnis zu Jerusalem oder Tel Aviv günstiger sind und wir zudem in der Nähe vieler Kindheitsfreunde von Tomer leben, da er ursprünglich hier aus der Region kommt. So ganz warm geworden bin ich mit Haifa noch nicht. Das mag auch daran liegen, dass wir, seit wir hier leben, die meiste Zeit im Lock-Down verbringen und man nicht wirklich die Gelegenheit bekommt, Stadt und Leute kennen zu lernen. Wie vorausgesehen, kam aber dann endlich die Arbeitserlaubnis, und zu meiner großen Freude und Überraschung habe ich recht schnell einen total super Job gefunden. Das war großes Glück! Nachdem Tomer lange Zeit derjenige war, der das Geld nach Hause brachte, während ich mit „Einwandern“ beschäftigt war, haben wir jetzt die Rollen getauscht. Bis auf weiteres bin ich erst einmal die Ernährerin hier, weil immer noch völlig unabsehbar ist, wann Tomer seinen Beruf wieder aufnehmen kann. Er hat derweil für sich das Langstreckenlaufen entdeckt, trainiert für seinen ersten Marathon – wann immer der stattfinden wird – und bildet sich gerade fort, um Trainer für Langstreckenläufe zu werden. Da er für sich festgestellt hat, wie krisensensibel sein Beruf ist, plant er ein weiteres Studium an der Uni in Haifa.

Ich kann nach den Geschehnissen nicht behaupten, dass Corona uns nicht weitergebracht hätte. Eher im Gegenteil. Ich denke, wir können uns sehr glücklich schätzen, auch wenn ich nun schon über ein Jahr meine Familie nicht sehen konnte. Das schmerzt natürlich schon.

Was bin ich froh, dass wir im 21. Jahrhundert leben und wir digital so gut aufgestellt sind, dass man uneingeschränkt telefonieren und sich dabei auch noch sehen kann. Ich glaube, anders würde ich es nicht aushalten. Natürlich ersetzt das in keinen Fall eine echte Umarmung von Mama, meiner Schwester, die ich besonders vermisse, Papa, Großeltern, allen einfach. Ich frage mich oft, wie die Menschen in der Vergangenheit das gemacht haben, nur mit Briefen und Telegrammen. Wie viel Sehnsucht die gehabt haben müssen.

Ulli: Jetzt fehlt noch die Auflösung der Eingangsfrage: Wie kann es sein, dass du rund 4000 km weit weg bist, Julia, und trotzdem in der Melanchthonkirche?

Julia: Ja, vielleicht habe ich das auch der Corona-Situation zu verdanken. Definitiv den Initiatoren der Melanchthonkirche, die dafür verantwortlich sind, dass man Melanchthon jetzt auch digital miterleben kann. Für mich ist das natürlich ein Geschenk, da ich anders gar nicht die Möglichkeit hätte, aus 4.000 km Entfernung teilzunehmen. Achim hatte mich darauf aufmerksam gemacht. Zuletzt haben wir uns Weihnachten 2019 gesehen, als ich in Köln war. Im Frühjahr hat er mich dann informiert, dass man den Gottesdienst jetzt auch live bei YouTube sehen kann, und das kam zu Ostern während des ersten Corona-Lockdowns natürlich genau richtig. Meine ganze Familie wurde in Melanchthon getauft, konfirmiert, verheiratet oder beerdigt. Alle Kinder sind in den Melanchthon-Kindergarten gegangen. Die Melanchthonkirche ist einfach auch ein Teil unserer Familiengeschichte, und manche Gemeindemitglieder kennt man schon seit der frühen Kindheit.

Weihnachten ohne Melanchthon wirkt irgendwie unvollständig, und auch wenn ich zu meiner Zeit in Köln keine große Sonntags-Kirchengängerin gewesen bin, sehe ich mir die Gottesdienste auf YouTube jetzt richtig oft an. Ich finde es richtig super, dass Melanchthon da mit der Zeit geht und sich medial entsprechend aufstellt. Sicher mag es Vor- und Nachteile zur Digitalisierung geben und es ersetzt auch in keinem Fall den persönlichen Kontakt. Dennoch begrüße ich sehr, dass die Melanchthonkirche mit ihrem Schritt aufzeigt, welche Möglichkeiten der Vernetzung man damit zu anderen Gemeinden weltweit aufbauen kann und welche Projekte möglich sind. Und auch, welches Angebot damit geschaffen wird, die Menschen abzuholen und mit einzubeziehen, die aus verschieden Gründen nicht bei den Gottesdiensten dabei sein können. Da es durch Corona plötzlich alle betraf, finde ich es super, dass die Melanchthonkirche an der Stelle den Schritt nach vorne gemacht hat und die Situation genutzt hat sich weiterzuentwickeln. Ich weiß selbst aus Erfahrung, wie viel Arbeit das ist, so etwas medial aufzubereiten. Ich bin mir ganz sicher, dass da sehr viel Herzblut drinsteckt. Das zeichnet die Melanchthonkiche aus mit einer so lebendigen Gemeinde, die sich stetig weiterentwickelt.

Für mich persönlich empfand ich es gerade zu Beginn des ersten Lock-Downs, als diese ganze Situation bei mir so viele Unsicherheiten und Chaos im Kopf ausgelöst hat, unglaublich tröstlich, digital mit einem Ort und seiner Gemeinde verbunden sein zu können, der mir so bekannt ist, zu dem so viele persönliche Erinnerungen gehören und – ja, der einfach meine Wurzeln anspricht. Das hat mich sehr geerdet und entspannt und tut es auch weiterhin. Aus- und Einwandern ist ganz sicher kein leichtes Unterfangen und, auch wenn sich das oft alles ganz toll anhört, gibt es auch Tage, an denen alles schwer und nervtötend wirkt. Die Melanchthonkirche ist einfach auch Heimat für mich und die Möglichkeit, weiterhin aus der Entfernung teilnehmen zu können. Wenn auch nicht physisch, ist es für mein Leben hier eine unglaubliche Bereicherung. Es gibt mir Halt und Kraft und an schweren Tagen Trost. Es ist einfach auch so schön zu wissen, dass trotz der Entfernung und meinem Leben hier immer noch Verbindung zur Gemeinde und den Menschen besteht und man weiter dazugehört, egal wie weit man weg ist oder wo man gerade ist in der Welt. Die Melanchthonkirche und Zollstock ist Heimathafen für mich, und da wird es auch keinen anderen Ort geben, der das ersetzen kann, auch wenn er noch so toll ist.

Ulli: Mein Dank gilt Dir, Julia, für ein tolles Interview, es war faszinierend und spannend in Deine Welt einzutauchen.